Die Hinterlist ist der Raben Trumpf


Erster Nachweis für taktische Täuschungs­manöver bei Vögeln erbracht - Ergebnisse legen nahe, dass der lange beschworene Abgrund zwischen Tier und Mensch nicht existiert

Dass der Geist nicht vom Himmel fiel, erklärte Hoimar von Ditfurth schon vor mehr als 30 Jahren einer breiteren Öffentlichkeit. Was damals jedoch eine - wenn auch bestechende - Übung in logischem Denken war, lässt sich heute mit wissenschaftlichen Daten untermauern: In der Verhaltensforschung häufen sich Ergebnisse, die nahe legen, dass der lange beschworene Abgrund zwischen Tier und Mensch nicht existiert.

Thomas Bugnyar von der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau im Almtal beschäftigt sich mit sozialem Wissen bei Kolkraben. Kolkraben sind die größten einheimischen Rabenvögel und haben - wie die meisten Rabenvögel - einen hervorragenden Ruf, was Intelligenz und Lernfähigkeit angeht. Sie ernähren sich vorwiegend von Fleisch, wobei sie eine ausgeprägte Vorliebe für Aas zeigen. Um Nahrung aufzuspüren, rekrutieren sie Artgenossen durch Futterrufe oder indem sie sie von deren Schlafplatz abholen. Haben die Vögel jedoch etwas gefunden, verwandelt sich die ursprüngliche Kooperation rasch in Konkurrenz. Zusätzlich kommt es oft zu Auseinandersetzungen mit anderen, gefährlichen Tieren wie zum Beispiel Wölfen. Bei solchen Interaktionen ist es von Vorteil, nicht nur das Verhalten anderer beurteilen, sondern auch bis zu einem gewissen Grad ihren Wissensstand einschätzen zu können. Dazu gehört beispielsweise schon die Fähigkeit, der Blickrichtung eines anderen zu folgen. Für soziale Säuger wie Menschenaffen, Hunde, Delfine und Ziegen wurde diese erst in den vergangenen Jahren nachgewiesen, über das Blickfolgen bei Vögeln gab es jedoch bisher kaum Arbeiten.

Wie Bugnyar und seine Kollegen im Rahmen eines vom Wissenschaftsfonds geförderten Projektes als weltweit Erste zeigen konnten, sind Kolkraben nicht nur imstande, dem Blick eines menschlichen Experimentators zu folgen. Die Forscher führten an ihnen einen Test durch, der bislang nur bei Schimpansen zum Einsatz kam: Dabei bewegt der menschliche Experimentator seinen Kopf in Richtung eines Punktes, der für das Versuchstier hinter einer Barriere verborgen ist. Ändert das Tier daraufhin seine Position so, dass es hinter die Barriere sehen kann, geht man davon aus, dass es den Blick des Experimentators in seinem eigenen Kopf verlängert hat.

Für jugendliche Kolkraben stellte diese Aufgabe kein Problem dar, wohl aber für junge, die zwar dem Blick des Menschen mit den Augen folgen, dann aber an der Barriere "hängen" bleiben. Auch beim Menschen braucht diese Fähigkeit Zeit zur Entwicklung: Menschliche Kinder blicken ab einem Alter von etwa 18 Monaten hinter die Barriere.

Ein Verhalten, das bei Kolkraben eine wesentliche Rolle spielt, ist das Verstecken von Nahrung. Alles, was sie nicht sofort fressen können oder was sonst von einem ranghöheren Artgenossen beansprucht werden könnte, wird versteckt. Bugnyar und seine Kollegen richteten eine Versuchsanordnung ein, die genauer untersuchen sollte, welche Lernvorgänge beim Verstecken ablaufen. Innerhalb kürzester Zeit jedoch entwickelte das Experiment eine erstaunliche Eigendynamik mit spektakulären Ergebnissen. Untersuchungsobjekte waren vier handaufgezogene Raben: zwei Männchen - Hugin und Munin (benannt nach Odins Raben) - und zwei Weibchen. Die Aufgabe dieser vier war es, Käsestücke, die die Forscher im Versuchsraum versteckt hatten, zu finden. Die Belohnung befand sich immer in Ansammlungen von farblich markierten Behältern; zusätzlich gab es auch Ansammlungen von Behältern ohne Käse. Praktisch von Anfang an entwickelte sich zwischen den beiden Männchen ein Muster: Der dominante Munin machte keine Anstalten, das Futter zu suchen. Das überließ er dem rangniedrigen Hugin - allerdings nur, um ihn dann sofort von der Futterquelle zu verdrängen und den Käse selbst zu fressen.

An Tagen, an denen Hugin sehr viele Belohnungen an seinen dominanten Bruder verlor, fing er an, auch Boxen ohne Käse zu öffnen. In vielen Fällen folgte ihm Munin dorthin, und während er die Nieten untersuchte, flog Hugin rasch zu den gefüllten Behältern zurück und nutzte die Gelegenheit, für ein paar Sekunden ungestört zu fressen. Im Laufe der Zeit lernte Munin jedoch, nicht mehr auf Hugin hereinzufallen, obwohl dieser seine Aufenthalte an den Boxen ohne Nahrung im selben Zug verlängerte.

Es handelt sich dabei um den ersten Nachweis für taktische Täuschungsmanöver bei Vögeln. Jane Goodall beschrieb 1986 ein ähnliches Verhalten für wilde Schimpansen, und vergleichbare Befunde gibt es für Mangaben und Hausschweine. Halbaffen (Kattas) hingegen zeigten bei ähnlichen Versuchen keinerlei Ansätze in Richtung Täuschung.

Raben haben ein ausgezeichnetes räumliches Gedächtnis, das ihnen erlaubt, sich haargenau daran zu erinnern, wo ein anderer Futter versteckt hat, sofern sie ihm dabei zusehen konnten. Rangniedrige Tiere, die bei Nahrungsquellen nicht zum Zug kommen, verfolgen oft ranghöhere, beobachten sie beim Verstecken und räumen dann deren Verstecke aus. Dementsprechend reagieren Vögel, die Nahrung verstecken, äußerst aufmerksam auf mögliche Beobachter: Oft verzögern sie das Verstecken oder verstecken nur sehr wenig Nahrung.

Wie Bugnyar in einem früheren FWF-Projekt zeigen konnte, nehmen erwachsene Raben dabei sogar Sichtbarrieren in Anspruch beziehungsweise nutzen tote Winkel im Blickfeld von Beobachtern, das heißt, sie verstecken sich beim Verstecken. Bei weiteren Experimenten stellte sich heraus, dass Kolkraben zwischen Konkurrenten unterscheiden, die den Versteckvorgang beobachtet haben, und solchen, die keine Gelegenheit dazu hatten: Wenn ein anderer Rabe das Verstecken beobachten konnte, räumen sie ihr Versteck sofort selbst aus, wohingegen sie bei Individuen, die beim Verstecken zwar anwesend, aber durch eine Barriere an der Sicht gehindert waren, erst abwarten, ob diese Anstalten machen, das Versteck zu plündern.

Bei einer anderen Variante gibt es zwei potenzielle Plünderer: Hat der rangniedrigere davon das Verstecken beobachtet und der ranghöhere nicht, hält sich der Beobachter so lange mit dem Plündern zurück, bis der unwissende, aber stärkere Konkurrent die Umgebung des Verstecks verlassen hat. Konnten hingegen beide das Verstecken beobachten, liegt die einzige Chance des rangniederen Vogels darin, schneller zu sein - und tatsächlich startet er in diesem Fall sofort los.

Solche Verhaltensweisen legen nahe, dass Raben Einsicht in die Gedankenwelt anderer haben, und das wieder bedeutet zumindest Ansätze einer "Theory of Mind", wie sie bislang dem Menschen vorbehalten schien. In jedem Fall ist der Homo sapiens auf dem Feld der sozialen Intelligenz bei Weitem nicht so allein, wie manche seiner Vertreter es vielleicht gerne hätten. (Susanne Strnadl/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14./15. 1. 2006)

 

 

 

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